Ich mußte die Mörfelder Kerb dieses Jahr leider schwänzen, weil ich beruflich im Schwäbischen unterwegs war. Vor meiner Abreise schlenderte ich noch über den Kerweplatz und fand alles in guter Ordnung, ich glaube auch Herrn Urhahn von den Grünen in bester Laune auf den Sitzbänken vorm “Abbel” gesehen zu haben. Im Ländle aber ereilte mich der Aufruhr um die Kerwebopp in den sozialen Netzwerken. Dabei haben mich zwei Dinge besonders überrascht: Zum ersten der Umstand, dass am Samstag offenbar niemand von der Aufschrift auf dem Hemd der Kerwebopp sonderlich Notiz nahm, geschweige denn sich aufregte. Schließlich hatten schon in früheren Jahren andere Personen und Vereinigungen die Ehre, hier “derbleckt” zu werden, wie man diesen Vorgang im benachbarten Bayern nennt. Die Kerb ist ein Volksfest. Dort herrscht nun mal ein etwas derberer Humor als in feinen Feuilletons. Den kann man mögen oder nicht – auf jeden Fall muss man ihn aber als das zur Kenntnis nehmen, was er ist: Eine legitime Stimme des Volkes. Zum zweiten erstaunten mich die Reaktionen auf das virale Video mit dem Aufstellen des Kerwebaums und der Stimme aus dem Hintergrund, die eine bösartige Parole gegen die Grünen herausplärrt. Warum macht man darum einen solchen Bohai? Warum macht man mit einem Plärrer ohne Kinderstube nicht das, was man mit einem Plärrer ohne Kinderstube normalerweise machen sollte: Man verachtet, verspottet oder ignoriert ihn. Stattdessen macht man aus ihm einen Straftäter, wirft ihm ein “Äußerungsdelikt” vor, erstattet Anzeige und gibt diesem Menschen auch noch ein großes Forum in den Medien. Damit schießt man mit Kanonen auf Spatzen und spielt den Rechten in die Karten, die man doch eigentlich bekämpfen will. Unser Herr Bürgermeister fühlt sich persönlich getroffen und setzt weit überzogene Gegenmaßnahmen in Szene. Die gipfeln schließlich darin, dass er sich in der Kerwemontags-Sitzung des Magistrates amtliche Unterstützung besorgt, sofort zur Tat schreitet und höchstpersönlich die Aufschrift auf dem Hemd der Kerwebopp überpinselt. Begründung: Es liege Volksverhetzung vor. Wobei der Bürgermeister im Grunde den gleichen Denkfehler macht wie der Plärrer, indem er die Forderung nach “Aufhängen” mit der Kerwebopp in Verbindung bringt, die ja auch am Baum “aufgehängt” sei, und dann auch noch verbrannt würde. Hier irrt der Bürgermeister gleich zweimal: Zum einen hat der Zwischenrufer mit dem Vorgang nichts zu tun, wie alle Beteiligten, voran der Verein “Merfeller Kerweborsch e.V.” unmissverständlich klargemacht haben. Zum anderen verkennt der Bürgermeister den historischen Inhalt der Tradition. Die Kerwebopp wird nicht am Baum “aufgehängt”, sondern sie sitzt auf dem Baum. Das wird schon dadurch deutlich, dass sie einen Stuhl unter dem Hintern hat, und keinen Strick um den Hals. Das hat einen geschichtlichen Hintergrund. Zu Kirchweihen wurde schon im Mittelalter oft die Zachäus-Legende aus dem Lukasevangelium, Kapitel 19 in den Mittelpunkt der Predigt gestellt. Zur Erinnerung: Zachäus aus Jericho ist ein Zolleinnehmer in römischen Diensten, der die Einwohner seiner Stadt jahrelang mit überhöhten Abgabenforderungen ausgenommen hat und zum reichen Mann geworden ist. Als Jesus auf seiner Reise nach Jerusalem durch die Stadt kommt, läuft ihm Zachäus entgegen. Weil er klein ist, klettert er auf einen Baum, um Jesus sehen zu können. Jesus kommt, sieht Zachäus auf dem Baum sitzen und sagt: “Komm schnell herunter, ich möchte heute in Deinem Haus zu Gast sein”. Das Volk murrt: “Er ist bei einem Sünder eingekehrt”. Das Ende der Geschichte: Zachäus bekennt seine Sünden, bereut und gibt dem Volk das Geld zurück. “Denn der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist.” begründet Jesus sein Handeln. Die Kerwebopp ist ein Sinnbild dieses Predigt-Inhaltes. Deshalb hängt sie nicht am Baum, sondern sie sitzt auf ihm, wie der nach Erlösung strebende Zachäus. Dazu wird sie manchmal durch eine Aufschrift mit einer oder mehreren Personen der Stadt in Verbindung gebracht, die in den Augen des Volkes am meisten gesündigt haben. Die Grünen, die dieses Jahr “dran” waren, mögen sich vielleicht einmal selbstkritisch fragen, warum sie in großen Teilen der Bevölkerung dermaßen unbeliebt sind. Vielleicht lesen sie mal die Zachäus-Legende und denken darüber nach, dem Volk etwas von dem zurückzugeben, was ihm in den Ampeljahren bisher schon aus der Tasche gezogen wurde. Die Verbrennung der Bopp am Kerwedienstag ist im Übrigen der Nachhall einer anderen Tradition, nämlich der rituellen Entsündigung: Ein Schlußstrich wird gezogen, die Strohpuppe hat alle Sünden auf sich genommen und wird mit ihnen verbrannt oder begraben. Damit könnte man auch den unschönen Zwischenfall ohne weiteren Aufwand zu den Akten legen. Den “Plärrer”, so er denn identifiziert werden kann, könnte man zu einer stillen Unterredung/Befragung ins Rathaus einladen, anstatt ihn gleich dem Staatsschutz auszuliefern. Er wird sich dann vielleicht ernst genommen, aber auch ganz klein fühlen. Viele sind sich sicher, dass ein bekannter Altbürgermeister so oder ähnlich gehandelt hätte. Man sollte sich eben zuerst mit den Fakten und der Geschichte der Kerb beschäftigen, anstatt sich zu vorschnellen und überzogenen Reaktionen hinreißen zu lassen
Merfeller Kerb 2024: Ihr liewe Leut, jetzt haltet doch mal den Ball flach
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