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“Parteipolitik”? Pfui! Ein politisch’ Lied!

Der Freitagsanzeiger verläßt den Boden der Verfassung

Im Freitagsanzeiger vom 26. November steht gleich neben der Schlagzeile “Maxime: Das Virus draußen halten” eine unscheinbare Nachricht mit der Überschrift  “Aussetzung politischer Leserbriefe”. Zufall? Oder muss in der Leserbriefspalte ebenfalls ein Virus “draußen gehalten” werden?  Aus der Notiz geht hervor, dass es das Virus der “Parteipolitik” ist, das man hier fürchtet. In der Ausgabe vom 03. Dezember 2020 wird das noch einmal wiederholt, diesmal von ganz oben, von Herrn Axel Gryscyk aus dem Hause Bintz Verlag, Chefredakteur nicht nur des Freitagsanzeigers.

Herr Beutel, der für die erste Notiz verantwortlich zeichnete, sich aber hinter dem Kürzel “db” versteckte, war wohl von Reaktionen des pp. Publikums ein wenig gebeutelt und überfordert. Die Überschrift lautet diesmal kategorisch: “Keine Parteipolitik in Leserbriefen.” Was hier getrieben wird, ist nicht weniger als Zensur unter missbräuchlicher Ausnutzung der gewissen Monopolstellung, die der Freitagsanzeiger am lokalen Zeitungsmarkt (noch) hat.

Hier wird eine der schlimmsten Seiten der deutschen Geschichte wieder belebt: Die Angst vor der Demokratie, vor Argumenten, Diskussion und Debatte, die von Bismarck und später von den Nazis als “Parteiengezänk” verhöhnt wurden. Eine unheilvolle Tradition aus dem deutschen Biedermeier, die offenbar bis heute nachwirkt.

“Parteipolitik” als Schimpfwort – eine unheilvolle Tradition

Schon in Goethes Faust wird (in Auerbachs Keller) gesagt: „Ein garstig Lied! Pfui! Ein politisch Lied!“. Das Wort “Parteipolitik” wurde damals zu einem Schimpfwort und ist es bis heute geblieben, obwohl das Grundgesetz dieses Landes in Artikel 21 eindeutig festlegt: “Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit”. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes schrieben diesen wichtigen Artikel aus leidvoller Erfahrung in die Verfassung, weil die Ausschaltung der demokratischen Parteien 1933 die Grundvoraussetzung für die Nazi-Diktatur war. Sie wussten, dass der Meinungsstreit zwischen demokratischen Parteien das Fundament einer Demokratie bildet. Bleibt er aus, droht Diktatur.

Artikel 5 des Grundgesetzes garantiert den Bürgern und ihren Parteien Pressefreiheit: “Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.”

Was nützt ein Grundrecht, wenn man es nicht ausüben kann?

Aber was nützt das Grundrecht, eine eigene Meinung oder die einer Partei zu äußern, wenn die Zeitung sie boykottiert? Wie soll man die Position einer sich zur Wahl bewerbenden Partei darstellen oder kommentieren, wenn keine Zeitung das abdruckt? Aus welchen Quellen sollen sich denn die Wähler sonst informieren? Vielleicht aus den sumpfigen Tümpeln der Verschwörungstheoretiker im Internet?

Und was ganz besonders schlimm ist: Diese Furcht vor einer lebendigen Demokratie, diese Herabwürdigung der Diskussion politischer Standpunkte als “Parteiengezänk”  hat in Deutschland schon zum wiederholten Mal entsetzliche Schäden angerichtet. Will man aus der Geschichte nicht lernen?

Eine Republik ohne Gebrauchsanweisung

Im Jahr 1921, ganz zu Beginn der ersten deutschen Republik, schrieb der Schriftsteller Alfred Döblin (unter dem Pseudonym Linke Poot) in seinem Buch “Der deutsche Maskenball”:

“Da hatte man sie (die deutsche Republik). Ein prächtiges Ding. Man überlegte, ob man ein Glasgehäuse darum bauen sollte, putzte es fleißig, zeigte es allen Nachbarn, hatte seine Freude daran. Einige ältere Männer und Frauen wurden damit betraut, das Ding in Ordnung zu halten und zu bewachen; denn es wird im Land furchtbar gestohlen.”  Und weiter: “Die Republik war von einem weisen Mann aus dem Auslande ins Heilige Römische Reich gebracht; was man mit ihr machen sollte, hatte er nicht gesagt: Es war eine Republik ohne Gebrauchsanweisung.” 

Leserbriefe als wesentliches Mittel der politischen Teilhabe

Das gleiche trifft in beängstigender Weise auch für die zweite deutsche Republik zu, die 1949 aus der Taufe gehoben wurde. Auch sie kam aus dem Ausland (von den Staaten der Anti-Hitler-Koalition, zuvöderst den USA), und auch sie ist im Grunde eine Republik ohne Gebrauchsanweisung geblieben. Lediglich die Bundeszentrale für Politische Bildung hat in ihren Heften diesen kleinen Gebrauchshinweis gegeben: “Ein Leserbrief ist ein wesentliches Mittel der politischen Teilhabe.”

Die gute Zentrale hat aber ihre Rechnung ohne die Herren Beutel und Gryscyk gemacht, denen “parteipolitische” Leserbriefe offenbar zuwider, ein Inbegriff von “garstig”, und so lieb wie Leibweh sind, wobei sie sich selbst anmaßen zu entscheiden, was ihrer Meinung nach “Parteipolitik” ist, und was nicht.

Parteien hinausfegen?

Vielleicht erfreuen sie sich ja an der berühmten Hamburger Hitler-Rede von 1932, als dieser in die Arena schrie: “Ich habe mir ein Ziel gestellt: nämlich die 30 Parteien aus Deutschland hinauszufegen.”

Die “Aussetzung politischer Leserbriefe” und der Redaktionsbefehl “Keine Parteipolitik in Leserbriefen” ist ein kleiner Schritt, geht aber genau in die gleiche Richtung.

Der Freitagsanzeiger verlässt damit das Fundament des Grundgesetzes.

Published inAllgemein